Wenn man genügend Zeit in der Natur verbringt, beginnt man nach und nach, etwas von der unendlichen Weisheit aufzunehmen, die dort draußen im Überfluss vorhanden ist. Der Autor und Abenteurer Alex Meier hat sich auf die Suche nach diesen Weisheiten gemacht und sie für uns Computer-Menschen in einen Essay gegossen. Aber nach dem Lesen geht’s vor die Tür, keine Ausreden!
Text und Bilder von Alex Maier, deutsch von Luca Brück
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Nach tausenden Kilometern Wanderung und hunderten Nächten in der Wildnis, muss sich der moderne Mensch einigen Wahrheiten stellen. Die Prioritäten und Perspektiven, die für die meisten “zivilisierten” Völker funktionieren, zählen in der Wildnis nichts. Was man im “normalen Leben” für wichtig hält, ist es nicht, wenn die Lebensmittel zur Neige gehen und man immer noch zwei Tage entfernt ist von irgendeiner Form von Zivilisation.
Da ist es logisch, dass wir beginnen, die Dinge mit anderen Augen zu sehen, dass wir anfangen, die Weisheiten der Natur aufzunehmen. Das hier sind nur einige der Weisheiten, die ich von der Natur gelernt habe.
Während eines Großteils der Menschheitsgeschichte haben wir in kleinen Stämmen als Jäger und Sammler gelebt. Die Umwelt war weniger vorhersehbar als heute. Niemand wusste, wann die nächste Dürre kommen oder man von einem Raubtier gejagt würde. Während des größten Teils unserer Existenz hat die menschliche Spezies versucht, diese Unsicherheit zu verkleinern. Mit dem Aufkommen der modernen Zivilisation ist uns das weitgehend gelungen. Die Unsicherheit im Leben eines durchschnittlichen Menschen hat sich erheblich verringert. Die meisten unserer Tage sind vorhersehbar und sicher. Heute besteht die Gefahr in zu viel Stabilität, nicht in zu viel Unsicherheit. Auch das ist gefährlich, aber aus ganz anderen Gründen. Zu viel Sicherheit führt zu Stillstand. Wenn wir nicht durch Unsicherheiten herausgefordert werden, verändern wir nichts. Wir hören auf, am Leben zu wachsen und stagnieren. Wir verkrusten nach und nach.
Flexibel sein ist eine Überlebenstechnik
Flexibel zu sein, ist der Schlüssel bei Abenteuern. Am Anfang einen Plan zu haben, ist eine gute Idee. Aber wenn sich die Situation ändert, sollten auch wir uns anpassen. Wenn wir zu stur unseren Plänen folgen, verpassen wir leicht großartige Gelegenheiten, die sich selten im Voraus ankündigen, sondern in der Regel ohne Vorwarnung auftauchen. Darum geht es: Die Chancen zu erkennen, bevor es zu spät ist, um das Beste aus unseren Abenteuern herauszuholen.
Wenn wir uns in Schwierigkeiten bringen, ist es leicht, uns als Opfer zu fühlen und die Schuld auf Dinge zu schieben, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Wenn wir die Schuld auf etwas Äußeres schieben, können wir die Verantwortung für die Lösung des Problems gleich mit von uns weisen. Weil wir ja nichts dafür können. In der Wildnis sind wir auf uns allein gestellt. Wunder der Moderne wie das GPS und Satellitenkommunikationsgeräte mit SOS-Knopf beseitigen viele der tödlichen Risiken, dabei hat es auch einen gewissen Nutzen, allein und ohne Unterstützung zu sein. Wir realisieren, dass unsere Probleme fast alle von uns selbst verursacht werden. An der Oberfläche klingt diese Erkenntnis hart und niederschmetternd, aber sie kann auch ermutigend sein, denn das bedeutet auch, dass wir die Möglichkeit haben, unsere Probleme zu lösen oder sie von vornherein zu vermeiden. Wir sind nicht länger hilflos angesichts der Launen der unkontrollierbaren Außenwelt.
Allein in der Wildnis unterwegs zu sein, ist sicherlich nicht ungefährlich, aber riskantere Wege sind oft lohnender. Sie können uns Einsichten über uns selbst und die Gesetze der Natur vermitteln, die viel schwieriger zu erkennen sind, wenn andere Menschen dabei sind und die Erfahrung beeinflussen. Allein zu sein bedeutet auch, alles ungefiltert zu erleben.
Wir sind subjektive Wesen. Wir haben Gefühle, Wünsche und Vorstellungen davon, wie die Dinge “sein sollten”. Wir verändern die Welt bewusst, indem wir versuchen, sie diesen Vorstellungen anzupassen. Wir bewerten und beeinflussen uns in diesem Streben ständig gegenseitig. Die Wildnis ist objektiv. Sie hat keine Gefühle oder Wünsche. Sie hat keine Vorstellung davon, wie die Dinge „sein sollten“. Sie existiert einfach nach den unveränderlichen Gesetzen der Natur. In der Wildnis allein zu sein bedeutet, dass alle anderen subjektiven Einflüsse aus der Gleichung entfernt wurden. Das macht sie zu einer perfekten Umgebung, um unsere eigene Subjektivität zu erkunden, denn das ist die einzige, die in der Gleichung übrig geblieben ist. Die objektive Wildnis ist wie ein Spiegel. Welche Einstellung wir auch immer in die Welt projizieren, sie wird auf uns zurückgeworfen. Eine schlechte Einstellung führt zu mehr Leiden, eine gute Einstellung zu mehr Chancen. Wenn wir Fehler machen, haben wir niemanden, dem wir die Schuld geben können. Also lernen wir, die Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen. Wenn wir bei etwas Erfolg haben, ist es nur unser Erfolg. Langsam lernen wir, welche Gewohnheiten und Einstellungen uns schaden und welche uns erfolgreich machen.
Probleme sind dornige Chancen
Wenn es bei einem Abenteuer darum geht, ins Unbekannte aufzubrechen, dann wird es zwangsläufig Probleme geben. Viele Schwierigkeiten müssen gelöst werden, wenn sie auftauchen. Normalerweise nehmen wir Probleme mit Frustration auf, aber je mehr wir überwinden, desto mehr beginnen wir, sie spielerisch zu betrachten. Probleme machen keinen Spaß, aber Spiele schon, und dieser kleine Perspektivwechsel macht es befriedigender, die Rätsel der Landschaft vor uns zu entschlüsseln. Außerdem stellen wir fest, dass wir in diesem Spiel immer besser werden, und das stärkt unser Vertrauen in die Zukunft.
Auch wenn der Welthunger wahrscheinlich nie ganz überwunden werden kann, ist der Anteil der Hungernden an der Gesamtbevölkerung heute geringer als je zuvor. Es ist ein modernes Wunder, dass etwa 89 % der menschlichen Bevölkerung keinen Hunger mehr fürchten müssen. Nahrungsmittel sind nur eines der Beispiele für den Überfluss, in dem wir heute leben. Bei all diesem Überfluss sind die Folgen von übermäßigem Genuss viel verzögerter. Wenn wir heute zu viel essen, werden wir morgen nicht hungern müssen. Aber wenn das zu einer Angewohnheit wird, wird sich unsere Gesundheit mit der Zeit stetig verschlechtern. Eine heftige Hungernacht ist eine viel wirksamere Lektion als jahrelange, langsame Gewichtszunahme.
Wenn all unsere Grundbedürfnisse befriedigt sind, dann ist Disziplin keine Notwendigkeit mehr, sondern eine Frage des Willens. Wenn das Überleben auf dem Spiel steht, haben wir keine andere Wahl, als diszipliniert zu sein. In der Wildnis wird Disziplin zur Normalität. Es geht darum, ein Gleichgewicht zwischen Opfern in der Gegenwart und Opfern in der Zukunft zu finden. Wie opfere ich genau das richtige Maß an Bequemlichkeit in der Gegenwart, um sicherzustellen, dass ich am nächsten Tag weitermachen kann? Wenn wir lange genug in der Wildnis gelebt haben, wird diese Denkweise zu einer Standardeinstellung unseres ganzen Seins. Wenn wir diesen Ansatz für unser normales Leben übernehmen, schaffen wir nach und nach eine bessere Zukunft.
Der Rhythmus des Weges führt in einen Flow, ein müheloses Vergehen der Zeit. Flow stellt sich ein, nachdem sich der Wanderer geistig und körperlich ganz auf den Weg eingelassen hat. Der Körper braucht in der Regel einen Monat, um sich anzupassen, der Geist aber kann sich jederzeit anpassen, oder auch gar nicht. Das hängt von der Einstellung der Person ab. Das Laufen wird einfacher und der Geist wandert frei zwischen den Gedanken. Er konzentriert sich auf Probleme, wenn sie auftauchen, aber er schafft keine, wenn es keine gibt. Im Rhythmus des Weges geht alles etwas leichter von der Hand.
Was ist Flow?
Ein Wanderer kommt normalerweise immer wieder aus dem Rhythmus und findet ihn dann wieder. Manchmal hält der Zustand für einen Tag oder auch nur ein paar Stunden. Oftmals merken wir nicht einmal, dass wir im Flow sind, bis wir aus ihm herausfallen. Den Flow zu erklären ist schwer, denn gerade die eigene Abwesenheit zeichnet ihn aus. Flow ist eine Form der Meditation, über die wir erst nachdenken können, wenn wir sie verlassen haben. Flow ist etwas, das aus erster Hand erfahren werden muss, um verstanden zu werden. Er kann überall erreicht werden, aber Erschöpfung, Einsamkeit und der Mangel an Ablenkung sind ein gutes Rezept für diesen Geisteszustand.
Unterwegs wird es immer gute und schlechte Situationen geben, aber wir müssen uns nicht von diesen Situationen beherrschen lassen. Wenn wir nicht machen können, was wir machen wollen, haben wir die Wahl: aufgeben oder nach einer Alternative suchen. Die Alternative wird eine Art Kompromiss sein, aber normalerweise besser, als aufzugeben. Wenn wir aufgeben, ist der Weg bereits vorgezeichnet: Ein Schritt zurück auf dem Weg unseres Wachsens. Wenn wir eine Alternative finden, ist die Zukunft noch offen. Ein alternativer Weg zweigt ab, und neue Möglichkeiten werden sich ergeben.
Gleichgültigkeit ist der Tod
In der Wildnis schwankt unsere Stimmung häufiger und extremer. Das liegt daran, dass sich die Dinge häufiger und extremer ändern. Zu Hause sind die Dinge viel stabiler, und Veränderungen finden über längere Zeiträume statt. Der durchschnittliche Tag im normalen Leben ist genau das: durchschnittlich. Es passiert nichts allzu Aufregendes, aber auch nichts allzu Schreckliches. Es ist schwer, einen durchschnittlichen Tag auf einem Trail wie dem Hayduke zu definieren, denn jeder Tag ist anders und unvorhersehbar. Neues Terrain, anderes Wetter und neue Herausforderungen.
Das höhere Maß an Unvorhersehbarkeit macht uns Menschen nervös. Es herrscht mehr Chaos, und wir müssen jederzeit auf eine Vielzahl von Möglichkeiten vorbereitet sein. Das schränkt unsere Wahrnehmung auf einen viel engeren Zeitraum ein. Ein Wanderer auf der Suche nach Wasser macht sich keine Gedanken darüber, was nächstes Jahr oder auch nur nächste Woche passieren könnte. Ihn interessiert nur, wie sich seine konkreten Entscheidungen jetzt auf die nächsten Stunden auswirken. Diese Ausdehnung der Zeit zwingt uns, uns selbst genau zu beobachten und jede Handlung zu durchdenken, denn wir haben keine Zeit zu verlieren.
Gewohnheiten sind nützlich, weil sie uns davor helfen, keine unnötige Energie mit wiederkehrenden Situationen zu verschwenden. Das Problem ist nur, dass unsere alten Gewohnheiten nicht mehr nützlich sind, wenn sich wiederkehrende Situationen verändern.
Die Umwelt um uns herum verändert sich ständig. Das Leben in der modernen Gesellschaft hat uns von vielen der Veränderungen in der Natur abgeschirmt. Stattdessen bekommen wir die Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels zu spüren. Diese zu bewältigen erfordert andere Fähigkeiten, aber im Kern geht es um dasselbe. Die einzige Konstante ist die Veränderung. Nur weil etwas gestern funktioniert hat, bedeutet das nicht, dass es heute funktionieren wird. Wir müssen wachsam für Veränderungen in unserem Umfeld sein, und bereit uns anzupassen, sonst werden unsere Strategien irgendwann nicht mehr greifen und wir uns nicht mehr in unserem Leben zurechtfinden.
In der Wildnis können wir unsere eigenen Maßstäbe festlegen. Dort draußen kann uns niemand für unsere Entscheidungen verurteilen, weil es keine subjektive Kraft gibt, die ein Urteil fällt. Das einzige Feedback kommt von uns selbst, denn wir sind die einzigen, die zu einem Urteil fähig sind.
Das ist unglaublich befreiend, aber es zeigt auch genau auf, wie viel wir an uns selbst nicht mögen. Jeder hat Unsicherheiten, und die nagen dann an uns. Manche sind es wert, dass man ihnen zuhört, aber die meisten sind nur Ballast, den wir seit Jahren mit uns herumtragen. Emotionale Traumata, Bedauern, peinliche Ereignisse; früher oder später erkennen wir, wie nutzlos das alles ist und lassen es los. Rucksäcke sind schwer genug. Das Wandern wird fast unmöglich, wenn sich genug seelischer Ballast angesammelt hat.
Stärke ist ebenso sehr geistig wie körperlich. Uns in unangenehme Situationen zu begeben, die uns an die Grenzen unserer Fähigkeiten bringen, ist Training für den Geist. Je mehr wir den Umgang mit Unbehagen üben, desto stärker werden wir. Dinge, die uns früher Angst gemacht oder uns frustriert haben, werden zur Routine, und sie haben nicht mehr die gleichen negativen Auswirkungen wie früher. Das Leben wird einfacher und angenehmer, wenn wir den Mut finden, unsere innere Welt zu erforschen. Wir sind besser über unser Handeln informiert und können bessere Entscheidungen treffen. Bessere Entscheidungen führen zu Wohlstand und Erfüllung. Es macht uns glücklicher und wir neigen dazu, Chancen zu sehen, wo wir früher nur Probleme gesehen haben. Es ist eine Rückkopplungsschleife, die unser Wohlbefinden mit der Zeit verbessert. Schließlich nehmen wir mehr Positives in der Welt wahr und weniger Negatives. Das liegt nicht daran, dass wir die äußere Welt verändert hätten. Wir haben uns einfach entschieden, auf das Positive zu fokussieren. Gleichzeitig sind wir aufmerksam genug, um uns gegen Schädliches zu wehren.
Gefahr schärft die Sinne
Oft verletzen wir uns nicht in Zeiten der Gefahr. Viele unserer Verletzungen, ob geistig oder körperlich, passieren, wenn wir uns sicher fühlen. In Zeiten der Gefahr sind unsere Sinne geschärft und wir sind vorsichtig. In komfortablen Zeiten glauben wir, dass uns nichts passieren kann, weil uns alles sicher erscheint. Wir werden unvorsichtig, und genau dann passieren Unfälle.
Karten und Reiseführer sind für Wanderer die Quelle der Ordnung, an die sie sich in der chaotischen Wildnis klammern. Es ist das kleine Bisschen bekannter Information, das sie in das Unbekannte mitnehmen können. Sie verlassen sich stark auf diese Informationsquellen, weil ihr Wohlbefinden davon abhängt. Das Problem ist, dass auch diese Informationen manchmal falsch sind. Normalerweise nur in geringem Maße, aber alles Unerwartete in dieser kostbaren Quelle der Ordnung stört das fragile Gefühl des Wanderers, seinen Platz in der Welt zu kennen. Eine kleine Störung reicht aus, um das Pendel zwischen Chaos und Ordnung ein wenig zu sehr auf die Seite des Chaos zu bringen. Das führt zu einer emotionalen Reaktion in Form von Angst oder Wut. Beides kann die Fähigkeit beeinträchtigen, gute Entscheidungen zu treffen.
Draußen in der Wildnis haben wir ein völlig anderes Verhältnis zur Zivilisation. Wenn wir genug Zeit dort draußen verbracht haben, erkennen wir, dass Städte, Straßen und all diese Infrastruktur nicht normal sind. Die Wildnis ist normal. Das ist das, was auf der Erde standardmäßig existiert. Die Menschen haben in mühsamer Kleinarbeit Stücke der Wildnis herausgeschnitten, um Platz für unsere Zivilisation zu schaffen. Einerseits ist es eine Schande, die Wildnis zu unserem eigenen Nutzen zu zerstören, andererseits ist es wirklich beeindruckend, was der menschliche Erfindungsreichtum in nur ein paar Jahrhunderten geschaffen hat. Es ist uns so gut gelungen, uns von der rauen Wirklichkeit der Wildnis abzuschotten, dass die meisten von uns die Zivilisation als den Normalzustand der Welt betrachten.
Der Unterschied zwischen Wildnis und Zivilisation
Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Wildnis und Zivilisation. Die Zivilisation wurde für uns gemacht. Wir aber wurden für die Wildnis gemacht. Wir haben die Erwartung, dass sich die Zivilisation uns anpasst, aber in der Wildnis ist es genau umgekehrt: Wir müssen uns an sie anpassen. Die eine Erwartung macht uns zu Gott, die andere macht uns zu Untergebenen einer höheren Macht. Das eine macht uns verwöhnt und verdirbt uns, das andere macht uns widerstandsfähig und demütig.
Wir Menschen sind dem Wald nicht unähnlich. Damit wir uns weiterentwickeln und wachsen können, müssen wir manchmal Teile des Totholzes verbrennen. Das sind die alten und überholten Teile von uns, die uns nicht mehr dienen; sie sind einfach nur totes Gewicht. Normalerweise haben wir lange mit diesen Teilen gelebt, und es kann schmerzhaft sein, sie verbrennen zu lassen. Aber früher oder später werden sie Feuer fangen. Es ist besser, viele kleine kontrollierte Feuer zu legen, als auf das große Inferno zu warten.
Wir verbringen einen Großteil unserer Zeit damit, uns auf die Zukunft vorzubereiten oder über die Vergangenheit zu grübeln. Das ist eine dieser Sachen, die uns Menschen ausmachen. Im Vergleich zu Tieren haben wir ein sehr gutes Verständnis von Zeit und dafür, wie sich unsere Handlungen in ihr fortpflanzen. Das gibt uns einerseits die außerordentliche Fähigkeit, aus unseren Fehlern zu lernen und eine bessere Zukunft aufzubauen, andererseits aber auch eine Menge Existenzangst. Wir sind uns sehr bewusst, dass unsere Zeit auf der Erde begrenzt ist, und das ist eine beängstigende Tatsache. Natürlich suchen wir nach Formen der Flucht, die uns ermöglichen, im Augenblick zu leben und der Tyrannei der Uhr zu entkommen.
Es ist nichts Falsches daran, im Augenblick zu leben, aber es ist eine Form der Flucht vor der Zeit selbst und kann kein dauerhafter Zustand sein. Die Zeit kann man nicht ignorieren, sie ist eine unaufhaltsame Kraft, mit der man sich früher oder später auseinandersetzen muss. Wenn wir ständig vor ihr fliehen, weigern wir uns, uns an die Veränderungen anzupassen, die sie mit sich bringt. Solange wir uns daran erinnern, zurückzukehren und uns mit der Vergangenheit und der Zukunft zu beschäftigen, werden wir von Zeit zu Zeit mit Perioden glücklicher Flucht vor ihr gesegnet sein.
Die Natur ist der Trainingsraum der Sinne
In der Wildnis erweitert sich unser Wahrnehmungsbereich, weil alle fünf Sinne zum Einsatz kommen. Sie haben sich genau dafür entwickelt, auf die Hinweise der Natur zu reagieren. Die Natur ist der beste Ort, um sie zu trainieren. Wie Muskeln verkümmern auch diese Sinne, wenn sie nicht benutzt werden.
Das Leben in der Zivilisation besteht aus einer Überfrachtung der Sinne. Helle, unnatürliche Farben wetteifern um unser Interesse, das Essen ist überwürzt, alles soll weich und bequem sein, Düfte konkurrieren miteinander, und Stille ist äußerst selten. In der Wildnis ist Subtilität die Regel. Unsere Sinne müssen härter arbeiten. Es dauert eine Weile, aber nach ein paar Wochen beginnen sich unsere Sinne anzupassen. Sie werden empfindlicher und wir nehmen unsere Umgebung bewusster wahr.
Dies manifestiert sich auf interessante und unerwartete Weise, denn unsere Sinne arbeiten immer im Hintergrund. Die meiste Zeit informieren sie uns auf einer unterbewussten Ebene, sodass wir neue Erkenntnisse erlangen können, ohne zu begreifen, woher sie kommen.
Wir denken gerne, dass wir Entscheidungen rational und logisch treffen, aber in der Realität werden viele unserer Entscheidungen stark von Gefühlen beeinflusst. Das ist der Grund, warum wir zum zweiten Donut greifen, auch wenn wir wissen, dass wir das nicht tun sollten, oder dass wir ein neues Gerät kaufen, obwohl wir sparen sollten. Kurzfristig fühlt es sich gut an, so zu handeln, und Gefühle bieten eine viel direktere Belohnung als Logik. In der modernen Gesellschaft sind die Konsequenzen gering, wenn wir uns auf subjektive Gefühle verlassen, weil wir eine sehr große Fehlertoleranz haben. Schlechte Entscheidungen können unser Glück beeinträchtigen, aber nur in sehr seltenen Fällen bedrohen sie unser Leben. In der Wildnis ist die Fehlertoleranz viel geringer. Schlechte Entscheidungen haben viel größere Konsequenzen, sodass wir gezwungen sind, uns über unsere Gefühle zu erheben und Entscheidungen auf der Grundlage der objektiven Realität zu treffen. Mit der Wildnis lässt sich nicht streiten. Bei 38 Grad Hitze und wenigen Wasserquellen müssen wir ganz gezielt handeln, unabhängig davon, wozu wir gerade Lust haben.
Der menschliche Verstand ist eine Mustererkennungsmaschine. Muster sind sehr wichtig, weil sie uns helfen, die Zukunft vorherzusagen und die Welt um uns herum zu verstehen. Dies passiert auf sehr einfachen Ebenen, etwa bei der Erkenntnis, dass es regnen wird, wenn sich dunkle Wolken über uns bilden, aber auch bei viel komplexeren Zusammenhängen, etwa wie bestimmte Verhaltensmustern zu bestimmten Resultaten führen. Unser Verständnis der Welt und unsere Fähigkeit, uns im Leben zurechtzufinden, hängen davon ab, wie gut wir die Muster um uns herum und in uns selbst verstehen.
Wenn etwas eines dieser grundlegenden Muster durchbricht, stellt das unsere Wahrnehmung der Realität infrage. Wir bleiben in einem Zustand der Verwirrung zurück und suchen nach Antworten. Wenn die Realität zur Disposition steht, tauchen alternative Erklärungen auf. Dies ist der Ort, an dem metaphysische Erklärungen leben, und dies erklärt, warum alte Kulturen viel religiöser waren als wir es heute sind. In Ermangelung eines wissenschaftlichen Verständnisses gab es für sie viel mehr unerklärliche Ereignisse. Götter und Magie waren für sie in vielen Fällen die besten Erklärungen.
Was wissen wir wirklich über das Leben?
Heute haben wir viele Dinge durchdrungen, die in der Vergangenheit unerklärlich waren. Wir glauben gerne, dass wir jetzt alle Antworten haben und alles auf materialistische Erklärungen reduziert werden kann. Unser Vertrauen in unser Wissen ist so groß, dass es uns arrogant macht. Wir sind nicht bereit zuzugeben, dass da immer noch Dinge sind, die sich unserem Verständnis entziehen. Wenn wir genug Zeit in der Wildnis verbringen, werden wir daran erinnert, dass die Welt noch immer viele Geheimnisse birgt.
Wir leben in einer nie dagewesenen Zeit, denn die Technologie ist heute mächtiger als je zuvor. Smartphones und Internet dringen in jede Kultur der Welt ein. Jetzt hat jeder eine Stimme, die von jedem anderen auf der Welt gehört werden kann. Es gibt eine Menge unnützes Rauschen im Internet, aber der allgemeine Trend ist, dass die Welt immer vernetzter und informierter wird. Das passiert schneller, als wir es begreifen, weil wir mittendrin sind. Ideen verbreiten sich schneller als je zuvor, und das sorgt für eine Menge Wirbel in einem System, das an solch rasche Veränderungen nicht gewöhnt ist. Man kann nicht sagen, ob diese Entwicklung auf lange Sicht gut oder schlecht für uns sein wird. Sicher ist nur, dass wir in chaotischen Zeiten leben und gleichzeitig ein unglaubliches Potenzial in unseren Händen halten.
Technologie ist nur ein Werkzeug, sie ist weder gut noch schlecht. Das war bei Werkzeugen schon immer so; der Unterschied heute ist, dass unsere Werkzeuge extrem mächtig geworden sind. Wenn wir nicht vorsichtig sind, werden wir mit diesen Werkzeugen die Welt und uns selbst zugrunde richten. Wenn wir diese neu gewonnene Macht diszipliniert und respektvoll nutzen, können wir sie zum Guten einsetzen. Wir haben mehr Verantwortung als unsere Vorfahren, denn wir haben mehr Macht, die Welt zu verändern.
Wir sind selbst die Schöpfer unserer Abenteuer, also können wir die Regeln dafür festlegen. Das bedeutet aber nicht, dass wir tun können, was wir wollen. Diese Regeln müssen uns herausfordern und uns helfen, zu reifen. Abenteuer sind selbstregulierend und geben uns negatives Feedback, wenn wir uns nicht an die Regeln halten. Ein bisschen gesunder Menschenverstand und eine Menge Versuch und Irrtum sind der einzige Weg, diese Regeln zu finden, denn jeder von uns braucht seine eigenen.
Abenteuer stellen uns ständig auf neue und unvorhersehbare Weise auf die Probe. Sie offenbaren eine einzigartige Mischung aus Stärken und Schwächen, die uns als Individuen ausmachen. Sie zeigen uns, was wir am meisten wertschätzen und vor welchen Fallstricken wir uns hüten müssen. Aus dieser Selbsterkenntnis kristallisiert sich ein Regelwerk heraus, das uns zeigt, wie wir die beste Version von uns selbst sein können.
Unsere Regeln zu finden, ist jedoch nur der erste Schritt. Der schwierige Teil ist, sie tatsächlich zu befolgen. Die meisten von uns kämen gut zurecht, ohne ihre persönlichen Regeln zu befolgen. Aber das wäre auch schon alles: zurechtkommen. Wir würden nicht scheitern, aber wir würden auch nicht aufblühen. Um unser Potenzial voll auszuschöpfen, müssen wir in allen Lebensbereichen unser eigener Chef werden. Das ist eine große Verantwortung, die mit Freiheit einhergeht und die man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Die Möglichkeit des Scheiterns ist gegeben, aber auch die Möglichkeit des Triumphs. Wahre Freiheit bietet ein grenzenloses Potenzial für gute und schlechte Ergebnisse, und nur durch die Übernahme von Eigenverantwortung können wir durch dieses riesige Meer von Möglichkeiten navigieren.
Abenteuer sind nie der einfachste Weg. Sollen sie auch gar nicht sein. Sie erfordern alles, was wir haben, damit wir alles werden können, was wir sein könnten.
Ich habe einen Dokumentarfilm über meine Wanderung auf dem 800 Meilen langen Hayduke Trail gedreht, mit dem Titel “Figure it Out on the Hayduke Trail” – Verfügbar auf Amazon prime, Tubi, und Plex!
Der Autor des Textes, Alex Maier, war ein Außenseiter in der Kindheit und ist es noch immer. Aber heute weiß er, seine Sicht der Dinge zu schätzen. Er betreibt das Projekt Wilderness Mindset zusammen mit seiner Partnerin Amy Robin.
Seine beiden Leidenschaften, Fotografie und Wandern, entdeckte Alex als er dabei war, seine eigene Identität zu finden. Er begann, alle seine Wahrheiten um die Lektionen herum zu ordnen, die ihn die Wildnis gelehrt hatten.
Heute ist er Tausende von Kilometern gewandert. Im Gepäck nur das Nötigste – und seine Kameraausrüstung, um diese Wanderungen zu dokumentieren.
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